Der Hochmeisterpalast im Mittelalter (Funktion und Struktur)
Die bislang durchgeführten Untersuchungen erlauben es, die Bau- und Funktionsgeschichte des Hochmeisterpalastes weitgehend zu entschlüsseln und aufzuzeigen, dass es sich um einen der innovativsten und fortschrittlichsten Residenzbauten des Spätmittelalters handelte, mit zahlreichen zukunftsweisenden technologischen, strukturellen und stilistischen Lösungen. Hervorzuheben ist, auch die stringente planerische Konsequenz die der architektonischen Konzeption zugrunde lag. Die Nutzungsstruktur des Gebäudes wurde bis in kleinste Details durchgeplant und lässt sich aufgrund der Analyse des weitgehend unversehrten Erhaltungszustands und einer Reihe von zeitgenössischen Schriftquellen fast vollständig nachvollziehen und rekonstruieren. Ein derart perfekt durchdachter und in die architektonische Realität umgesetzter Residenzbau muss zweifellos zu den herausragenden Leistungen spätmittelalterlicher Profanbaukunst gerechnet werden.
Datierung des älteren Hochmeisterpalastes
Zur Baugeschichte des Plastes waren bislang keine zeitgenössischen Schriftquellen bekannt. Die Datierungsansätze sind daher in der Forschungsliteratur recht unterschiedlich gewesen. Seit der Mitte des 19. Jahrhundert war durch die Forschungen Ferdinands von Quast auch bekannt, dass der heutige prächtige Bau einen einfachen Vorgänger besaß, dessen Datierung jedoch heftig umstritten war. Durch die dendrochronologische Untersuchung der Dachbalken (durchgeführt von Alexander Konieczny aus Thorn/Toruń) konnte im Rahmen des Projekts zuverlässige Anhaltspunkte für die Datierung beider Hauptbauphasen gewonnen werden. Es stellte sich heraus, dass im nordöstlichen Palastbereich (über der Hochmeisterwohnung) fast das gesamte Dachwerk noch aus den originalen Balken des 14. Jahrhunderts besteht. (Abb. 1) Die meisten Balken wurden im Zeitraum um 1383/84 geschlagen, einige Balken waren dagegen 50 Jahre älter (1332/33) und stammen offensichtlich als wiederverwendetes Material aus dem Dach des ersten Palastes. Diese Entdeckung stellte eine kleine Sensation dar, denn man war allgemein davon ausgegangen, dass in der gesamten Marienburg aufgrund der zahlreichen Zerstörungen und Wiederherstellungen der neuzeitlichen Epochen keine originalen Dachkonstruktionen mehr erhalten waren. Auch in den übrigen Dachbereichen des Palastes fanden sich zahlreiche zweitverwendete Balken des 14. Jahrhunderts, so dass die Baudaten der Residenz auf Grundlage der Untersuchungsergebnisse die Datierung der Hauptbauphasen zuverlässig vorgenommen werden konnte.
Demnach wurde der ältere Palast unmittelbar nach dem Amtsantritt des Hochmeisters Luther von Braunschweig (1331-1335) in den Mauern eines schon bestehenden Wirtschaftsgebäudes errichtet. Luther ließ als Neubau eine eigene Kapelle (siehe unten) errichten, was auch durch eine zeitgenössische chronikalische Nachricht bestätigt ist. Durch quellenkundliche Untersuchungen konnte außerdem nachgewiesen werden, dass der Hochmeister erst ab 1333 in einem eigenen Gebäude urkundete, wodurch sich die dendrochronologisch ermittelten Daten exakt bestätigen ließen. Damit konnten die Annahmen der älteren Forschung widerlegt werden, die überwiegend davon ausging, dass der erste Palast schon unmittelbar nach der Übersiedlung des Hochmeisters auf die Marienburg 1309 errichtet worden sei. Durch das Forschungsprojekt wurde aufgezeigt, dass tatsächlich mehr als 20 Jahre zwischen der Verlegung des Hochmeistersitzes und dem Bau des ersten Palastes vergingen. Dies lässt sich historisch gut begründen, denn erst unter Luther von Braunschweig war die politische und finanzielle Stellung des Hochmeisters in Preußen so abgesichert, dass eine eigene Hofhaltung eingerichtet werden konnte. Darüber hinaus brachte Luther als Sohn eines Reichsfürsten ein ganz anderes herrschaftliches Selbstverständnis mit als die vor ihm regierenden aus niederadligen Geschlechtern stammenden Hochmeister. (Abb. 2) Die Errichtung eines einem Fürsten gebührenden Residenzgebäudes entsprach diesem Selbstverständnis. Schließlich vollzog sich unter den frühen Hochmeisters in Preußen der Übergang von der Reise- zur Residenzherrschaft, wodurch ein dem neuen Regierungsstil angemessenes Residenzgebäude notwendig war. Die Hochmeister amtierten mehr als die Hälfte des Jahres in der Marienburg und übten demnach eine ortsfeste Regierung aus. Mit der sicheren Datierung des ersten Palastes und deren historischer Begründung konnte eine wesentliche Frage der Entstehungs- und frühen Baugeschichte des Palastes eindeutig beantwortet werden.
Datierung des neueren Hochmeisterpalastes
Die oben erwähnten dendrochronologischen Untersuchungen ergaben auch zuverlässige Anhaltspunkte für den anspruchsvollen Erweiterungsbau des Hochmeisterpalastes. Dieser erfolgte in einem ersten Abschnitt (nordöstlicher Bau mit eigentlicher Hochmeisterwohnung) um 1385. Die jüngsten Dachpartien wurden 1395 errichtet, womit eine exakte Bauzeitbestimmung möglich ist. Der Bau kann damit als etwas älter eingestuft werden, als es die Forschung bislang angenommen hat. Die Initiative für die Erweiterung ist dem Hochmeister Konrad Zöllner von Rotenstein (1382-1390) zuzuschreiben. Unter diesem Hochmeister kam es zur Einführung zahlreicher Neuerungen im Verwaltungswesen (etwa die Übernahme des Amtsbuchsytems), was zu einer deutlichen Bedeutungssteigerung der hochmeisterlichen Kanzlei führte. Wie die Nutzungsanalyse des Gebäudes gezeigt hat, nahm die Kanzlei die beiden unteren Geschosse des neuen Palastes ein und bildete somit praktisch und zeichenhaft das Fundament der Regierungstätigkeit. Insgesamt wurde die dem Hochmeister zur Verfügung stehende Raumfläche (gegenüber dem älteren Palast) mehr als verdreifacht. (Abb. 3) Neben der Ausweitung der Kanzlei war für diesen vergrößerten Raumbedarf vor allem das Bedürfnis nach höherem Wohnkomfort für den Hochmeister und die höchsten Ordensgebietiger (Anlage moderner Appartements) sowie die Ausweitung des Repräsentationsbereiches durch die Schaffung mehrerer Versammlungs- und Beratungssäle verantwortlich.
Obwohl der Hochmeisterpalast auf den ersten Blick eine sehr einheitliche Gestaltung aufzuweisen scheint, gibt es im östlichen (zum Hof gerichteten) Gebäudeteil eine recht komplizierte Baustruktur, was auf die Integration älterer Mauerzüge und verschiedene Umbauphasen zurückzuführen ist. Eine zufriedenstellende Interpretation und Datierung dieses Baugefüges konnte bislang nicht erbracht werden. Durch eine Verknüpfung der im vorhergehenden Absatz erwähnten neuen Datierungsansätze mit aktuellem Planmaterial, das auf Grundlage eines im Rahmen des Projekts angefertigten 3D-Scan erstellt wurde, konnte nun erstmals ein zuverlässiger Baualtersplan des Gebäudes erarbeitet werden. (Abb. 4) Dieser Plan ist bis auf kleine Details weitgehend fertiggestellt und wird bis zum Frühjahr 2018 nach Einfügung letzter Korrekturen und graphischer Aufarbeitung für alle Ebenen und Schnitte publikationsreif sein.
Durch die Verknüpfung bauhistorischer und quellenkundlicher Forschungsmethoden war es möglich, die ursprünglichen Geschoss- und Raumfunktionen (und somit auch die originale Planungskonzeption) des Palastes detailliert zu rekonstruieren. (Abb. 5) Demnach gab es drei horizontal organisierte Funktionseben: der Kanzleibereich in den beiden unteren Palastgeschossen (Ebene 1 und 2), das Gebietigergeschoss mit insgesamt acht Wohneinheiten unterschiedlichen Zuschnitts für höhere Amtsträger des Ordens in der darüber liegenden Ebene 3 und schließlich das obere Hochmeistergeschoss (Ebene 4) mit den Wohnräumen (nördlicher Abschnitt) und den Repräsentationssälen (südlicher Bereich). Zwischen dem Wohn- und Repräsentationstrakt von Ebene 4 verlief ein aufwändig gestalteter Flur als Kommunikationsachse für die Besucher. Jede der drei Funktionsebenen hatte einen separaten Zugang vom Hof des Mittelschlosses her. Zum Hochmeistergeschoss führte eine breite Ehrentreppe mit bequemer Stufenhöhe. Die unteren Geschosse des Palastes wurden durch einfach gestaltete Gänge erschlossen. Zu Dienstzwecken bestand eine in der Mauerstärke versteckte Struktur von Wendeltreppen für Diener und Kanzleimitarbeiter.
Hierarchische Gebäudestruktur und Piano Nobile
Die Analyse der Funktions- und Kommunikationsbereiche des Hochmeisterpalastes lässt erkennen, wie der Architekt jeden Raum nach den spezifischen, vom Bauherrn vorgegebenen Nutzungsanforderungen angeordnet und ausgestattet sowie in ein ausgeklügeltes Kommunikationssystem eingefügt hat. Die Architektur des Hochmeisterpalastes beschränkt sich jedoch nicht nur auf eine eindrucksvolle Funktionalität und innere Logik der Raumstruktur. Der Werkmeister hat vielmehr bei der Ausgestaltung der baulichen Details in den verschiedenen Geschossen und Raumgruppen ganz genau darauf geachtet, dass sich die funktionale Differenzierung auch ästhetisch und sinnbildlich in den baulichen Details widerspiegelte. Dadurch entstand eine strenge Hierarchie im architektonischen Aufbau und der dekorativen Ausgestaltung des Palastes. Es gab sowohl eine von unten nach oben aufsteigende Rangordnung der Geschosse als auch eine Steigerung der Raumbedeutung von Ost nach West. (Abb. 6) Die Beachtung von Rangordnung und Hierarchie war ein grundlegendes Element der mittelalterlichen Gesellschaft. Jeder Mensch hatte seinen genau definierten Platz im Ständesystem oder innerhalb einer Korporation wie dem Deutschen Orden. Man achtete peinlich genau darauf, dass der zugewiesene Rang in der Gemeinschaft eingehalten und geachtet wurde. Dies galt auch für die Raumorganisation der Residenz des Hochmeisters. Dem Meister war das oberste Geschoss als Ort der Wohnung und Repräsentation vorbehalten. Eine Stufe tiefer wohnten die wichtige Gebietiger sowie die dem Hochmeister zugeordneten Kumpane. Eine weitere Stufe tiefer war der Platz für die Kanzlei und ihre Schreiber.
Die architektonische Ausstattung der Räume entsprach der Rangordnung ihrer Funktionen und Bewohner. Merkmale hierfür sind zunächst die Grundfläche und Höhe der Räume. Die Raumhöhe steigert sich stetig vom unteren bis zum oberen Geschoss. (Abb. 7) Im Bereich des repräsentativen Hochmeistergeschosses gibt es auch eine Höhensteigerung von Ost nach West: Der im Westen gelegene Sommerremter ist höher als der anschließende Winterremter, während die östlich anschließende Ratsstube am niedrigsten war. Auch der Hauptflur zeigt diese Höhendifferenzierung, denn der westliche Abschnitt überragt den östlichen Flurbereich deutlich. Im Gebietigergeschoss kann man die Differenzierung der Raumausdehnung entsprechend ihrer Rangordnung gut erkennen. Die größte Wohnfläche boten die beiden Appartements der Großgebietiger an der Westseite, während die Räume für die Kumpane und sonstigen Gebietiger im östlichen Bereich deutlich kleiner waren.
Die hierarchische Geschoss- und Raumdifferenzierung zeigt sich aber auch bei den Baudetails. Als anschauliches Beispiel seien die Gewölbepfeiler genannt. (Abb. 8) Auf der unteren Ebene 1 sind die Pfeiler niedrig und einfach ausgebildet: Sie bestehen aus Granit mit einer rauen Oberfläche, haben eine Höhe von 2,05m und einen quadratischen Grundriss. Basis und Kapitell bestehen aus einfachen abgeschrägten Platten. Die Pfeiler in der darüberliegenden Ebene 2 sind 2,9m hoch, bestehen ebenfalls aus Granit mit rauer Oberfläche und haben einen achteckigen Grundriss. Die Pfeiler in Ebene 3 sind 3,35m hoch, haben ebenfalls einen achteckigen Grundriss, der Granitstein wurde aber geschliffen und zeigt eine höherwertige glatte Oberfläche. Auch die Basis hat eine weitaus elegantere Form als in den beiden unteren Geschossen. Die architektonisch hochwertigsten Pfeiler liegen in der Ebene 4. Die Mittelstütze des Winterremters hat eine Höhe von ca. 3,3m, eine glatte Granitoberfläche, einen achteckigen Grundriss sowie eine elegante Basis. Am prächtigsten zeigt sich der Pfeiler im Sommerremter mit einer Höhe von 4,7m, einem achteckigen Grundriss, glatter Oberfläche und einem echten Kapitell. Zusätzlich verjüngt sich der Pfeilerschaft noch durch einen Rücksprung, wodurch optisch seine Zerbrechlichkeit und Eleganz betont wird.
Am Beispiel der Pfeiler lässt sich gut nachvollziehen, mit welcher Sorgfalt der Werkmeister die Einzelelemente des Residenzgebäudes individuell und differenziert gestaltet hat. Dies tat er jedoch nicht nur bei den Pfeilern sondern bei allen Baudetails, etwa den Fenstern (Abb. 9), Portalen (Abb. 10), Gewölben und Konsolen. Achtet man auf diese Feinheiten der Detailgestaltung so zeigt sich, dass jeder Raum – je nach seiner Funktion und seinem Rang innerhalb der Gebäudehierarchie – ein spezifisches Formenrepertoire aufweist. Die Grundformen der einzelnen Elemente sind dabei immer ähnlich, z.B. sind alle Pfeiler quadratisch oder achteckig, alle Fenster rechteckig mit einem Kreuzstock, alle Portale haben einen geraden oder segmentbogigen Sturz. Der Werkmeister verwendete beim Arrangement der architektonischen Raumausstattung stets diese gleichen Basismodelle variierte sie aber jeweils mit kleinen, manchmal nur kaum merkbaren Nuancen, keinesfalls mit extremen Kontrasten. So entstand ein Bau, der einerseits eine durchgehende stilistische Einheit bewahrt und andererseits im Rahmen dieser Einheitlichkeit sehr feinsinnige Abstufungen zeigt.
Mit der Privatkapelle des Hochmeisters haben sich die Marienburgforscher seit dem frühen 19. Jahrhundert immer wieder in kürzeren oder längeren Beiträgen auseinandergesetzt. (Abb. 11) Sie stand bislang jedoch nicht im Zentrum des Interesses. Insbesondere sind Fragen nach der architektonisch Genese und Wirkungsgeschichte kaum thematisiert worden, ebensowenig der Aspekt der Doppelgeschossigkeit oder die Beweggründe für den Umbau am Ende des 14. Jahrhunderts. Durch die aktuellen Forschungen konnte eine sichere Datierung in die Herrschaftszeit Luthers von Braunschweig (1331-1335) erbracht werden. Typus und Stellung der Kapelle sind im Kontext der Architektur des Ordenslandes sehr ungewöhnlich. Die in exponierter Lage errichtete, polygonal geschlossene Doppelkapelle gehörte einem exklusiven, herrschaftlich konnotierten Kirchentypus an. Man kann davon ausgehen, dass sich Luther von Braunschweig an der westlichen Tradition von Herrschaftskapellen orientierte, ohne dass man mit Sicherheit ein direktes Vorbild benennen könnte. Die Doppelkapelle war seit der Aachener Pfalz Karls des Großen quasi eines der Standardmodelle königlicher oder bischöflicher Sakralbautypen an Herrschaftssitzen. Die Wahl einer solchen bis dahin im Ordensland nicht vorhandenen Bauform war gewiss kein Zufall. Sie passt ausgezeichnet zum Anspruchsniveau des aus reichsfürstlichem Geschlecht stammenden Hochmeisters. In ihrer Dimension war die Kapelle eher bescheiden, doch die Bauform und die Lage im Hof des Mittelschlosses – freistehend vor der Fassade des ersten Palastes – erregte große Aufmerksamkeit. Dies belegt die zeitgenössische Hervorhebung des Kapellenbaus in der Reimchronik Nikolaus von Jeroschins, der sie als besondere architektonische Leistung Luthers von Braunschweig ausdrücklich würdigte: „dî capelle wart ûf gesat, dî nû in schôner zîrde stât“.
Innerhalb weniger Jahre fand die Idee des doppelgeschossigen und polygonal geschlossenen Chorbaus gleich zweimal eine unmittelbare Nachfolge in der Sakralarchitektur des Ordenslands. Hochmeister Dietrich von Altenburg (1335-1341) ließ bald nach seinem Amtsantritt die Marienburger Konventskirche erweitern, wobei der verlängerte neue Chor sowohl den Polygonalschluss wie auch die Unterkapelle (St. Annen als zukünftige Grablege der Hochmeister) von der Kapelle übernahm. Noch vor der 1344 erfolgten Vollendung der Konventskirche begannen Bischof und Domkapitel von Pomesanien Ende 1342 mit dem Neubau des Domchors in Marienwerder, der – nun in weitaus größeren Maßstab – das Marienburger Schema übernahm. Auch hier diente die Unterkapelle des polygonal geschlossenen Chors als Grablege, nun für die pomesanischen Bischöfe und Domherren. Sicherlich war die Marienburger Konventskirche (und nicht die Hochmeisterkapelle) unmittelbares Vorbild für den Dom, Ausgangspunkt für die aufgezeigte architektonische Entwicklung war jedoch die von Luther initiierte Kapelle.
Eine wichtige neue Erkenntnis des Forschungsprojekts war die Entdeckung mehrerer Wohneinheiten in Ebene 3 (Gebietigergeschoss), die nach dem modernen Prinzip des Stuben-Appartements (nach Definition von Stephan Hoppe) konzipiert waren. (Abb. 12) Die Existenz eines dreiräumigen Appartements (Wohnstube, Schlafkammer, Studierstüblein) zuzüglich einer Privatkapelle für den Hochmeister in Ebene 4 ist bislang schon bekannt gewesen (wenn auch die Funktion der einzelnen Räume zum Teil fehlgedeutet wurde). Die Anordnung der Appartements für drei Großgebietiger im Geschoss darunter wurde jedoch nicht erkannt, obwohl sich die Räume seit der Entstehungszeit fast unverändert erhalten haben. Sie bestehen jeweils aus einer beheizbaren Wohnstube (mit separatem Eingang von Flur oder Saal her), einer unbeheizten Schlafkammer (Abb. 13) und einem kleinen Tresorraum. Für alle Appartements gemeinsam gab es eine zentrale Toilettenanlage, für die jeder Bewohner der Appartements einen eigenen Schlüssel besaß (durch zeitgenössische Rechnungsvermerke nachgewiesen). Bei diesen perfekt durchgeplanten Wohnräumen handelt es sich um die ältesten in Mitteleuropa sicher nachweisbare Stuben-Appartements – ein Beleg für die in vielerlei Hinsicht nachweisbare Fortschrittlichkeit des Hochmeisterpalastes in der Geschichte der herrschaftlichen Wohnarchitektur.
Der Hochmeisterpalast besaß einen für seine Zeit außergewöhnlich hohen Wohnkomfort. Ein großer Teil der Räume verfügte über eine Heizung und jedes Geschoss hatte eine zentrale Toilette sowie einen Brunnenzugang. Die meisten Räume waren durch zahlreiche Fenster großzügig beleuchtet und alle Funktionsebenen und Raumgruppen wurden über eigene Verbindungsgänge oder Treppen erschlossen.
Besonders eindrucksvoll zeigt sich der Wohnkomfort im Palast beim Thema der Heizung. Insgesamt neun Räume waren an das Warmluftsystem angeschlossen, das durch vier Öfen (die sich in Ebene 2 und 3 befanden) bedient wurde. Dabei handelte es sich einerseits um die Versammlungssäle (außer dem Sommerremter) und andererseits um die Wohnstuben des Hochmeisters und der Großgebietiger. (Abb. 14) Eine Reihe anderer Stuben in den unteren Raumebenen waren mit Kachelöfen ausgestattet. Für mittelalterliche Verhältnisse stellte eine derartig große Anzahl beheizbarer Räume einen absolut ungewöhnlichen Luxus dar.
Zur vorbildlichen Infrastruktur des Wohnkomforts gehören auch die drei zentralen Toiletten, dies sich am Hauptflur der drei unteren Geschossebenen befanden. Diese Toiletten wurden durch Schächte entsorgt, die in den unter dem Palast durchfließenden Mühlengraben führten. Alle Bewohner und Bedienstete des Palastes konnten ihre Bedürfnisse bequem und unauffällig erledigen. Im Hauptflur befand sich auch ein Brunnenschacht, der von allen Geschossen aus erreichbar war. Das Wasser diente zum Wasch- und Reinigungszwecken, wie etwa die Hand- und Fußbecken im repräsentativen Flur des Hochmeistergeschosses anschaulich belegen. (Abb. 15)
Betrachtet man zusammenfassend alle Elemente des Wohnkomforts und der Bequemlichkeit, so war der Hochmeisterpalast der wohl luxuriöseste und installationstechnisch innovativste Bau seiner Zeit. Der Werkmeister hatte alle Rauchabzüge, Warmluftröhren, Abwasserleitungen, Entsorgungs- und Wasserschächte im Voraus zu planen und während der Bauausführung darauf zu achten, dass die Maurer die entsprechenden weitverzweigten Vorrichtungen in den Wänden und Decken des Palastes richtig ausführten. Wie in modernen Gebäuden muss es zu diesem Zweck einen Installationsplan gegeben haben. Dies war eine bewundernswürdige und zukunftsweisende Ingenieurleistung. Mir ist kein Vergleichsbeispiel in der europäischen Residenzarchitektur des Mittelalters bekannt, das einen vergleichbaren Komfort bieten konnte.
Ein in der europäischen Profanarchitektur bislang einzigartiges Element bildete das ausgeklügelte Dienergangsystem im Repräsentationsgeschoss des Hochmeisterpalastes. (Abb. 16) Die in der Mauerdicke versteckten Gänge führten zu drei Schenkläden (Sommerremter, Winterremter, Empfangssaal), über die die Diener des Kellermeisters – für den Hochmeister und seine Gäste unsichtbar – Getränke und Konfekt in den Saal reichen konnten. Vom Dienergang führte eine breite Wendeltreppe bis zum Keller hinab, wo die Wein-, Met- und Biervorräte des Hochmeisters gelagert waren. Die Schenkläden konnte man durch hölzerne Flügel verschließen, sie wurden nur bei Bedarf geöffnet. Vor den Läden befanden sich steinerne Kredenzbänke, auf denen das Trink- und Konfektgeschirr stand. Ausgeschüttete Flüssigkeiten wurden über Abflussrinnen am äußeren Rand der Steinplatten zu einem Bleiröhrchen geführt, das in der Wand vermauert war und die Abwässer nach außen ableitete. Für ein derart ausgeklügeltes Dienergangsystem konnte bislang kein Vergleichsbeispiel in der europäischen Residenzarchitektur gefunden werden. Möglicherweise handelt es sich um eine Erfindung des Marienburger Werkmeisters, entwickelt auf Wunsch des Bauherrn.
Zu den Aufgaben des Projekts gehörten nicht nur die bauhistorischen Untersuchungen im engeren Sinne sondern auch der Versuch, Erkenntnisse über die repräsentativen sowie die privaten Abläufe innerhalb der Räume zu gewinnen. Zu diesem Zweck wurden systematisch alle relevanten mittelalterlichen Quellen durchgesehen und verwertbare Informationen gesammelt. Die anschließende Auswertung ergab in Bezug auf die verschiedenen Arten der Treffen, Versammlungen und Beratungen in der Residenz (Generalkapitel, gewöhnliche Kapitel, Ständetage und Städtetage, Gebietigerrat, informelle Beratungen, Hofspeisungen und sonstige Mahlzeiten) sowie auf die Personengruppen, die den Hochmeister besuchten (ausländische Fürsten, sonstige ausländische Gäste, ausländische Boten und Gesandte, ausländische Herolde und Musikanten, inländische Amtsträger und Boten, einfache Bedienstete und Untertanen des Hochmeisters) ein reichhaltiges Material, das tiefe Einblicke in die realen Vorgängen des spätmittelalterlichen Residenzleben erlaubt.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Hochmeisterpalast in vielerlei Beziehung ein äußerst innovativer und zukunftsweisender Bau der europäischen Residenzarchitektur des späten Mittelalters gewesen ist. In Bezug auf die Funktionalität der Raumorganisation, den Wohnkomfort, das Appartementsystem, eine zukunftsweisende Stilistik und viele andere Aspekte mehr wurden zahlreiche neue Maßstäbe gesetzt. Der Hochmeisterpalast erweist sich somit als einer der bedeutendsten und modernsten europäischen Profanbauten seiner Zeit.
Hinzuweisen ist auch darauf, dass sich an den Forschungen zum Hochmeisterpalast exemplarisch zeigen lässt, wie die spezifischen methodischen Instrumente der Bauforschung und Architekturgeschichte unter optimalen Bedingungen zu einem enormen Erkenntnisgewinn führen können.